Von Chile über Jamaika nach Australien
HF: Deutschlands Hebammen diskutieren seit Jahren die Verlagerung der Ausbildung an die Fachhochschulen. Wie sah vor 15 Jahren ihr Einstieg in die Hebammenausbildung aus?
Anita Oehler: Der war damals schon ungewöhnlich und ist es heute wahrscheinlich noch mehr. Ich gehöre wohl zu den absoluten Ausnahmen meiner Generation, denn mit Hauptschulabschluß und zwei Berufsausbildungen, ich bin Zahnarzthelferin und Rettungssanitäterin, bekam ich einen Ausbildungsplatz an der Hebammenschule in Würzburg. Es war für mich als Rettungssanitäterin schwer eine Stelle zu bekommen, da es damals noch der absolute Männerberuf war.
HF: Lag Ihnen der Frauenberuf Hebamme näher?
Anita Oehler: Ja. Ich bin da aber mit einer sehr pragmatischen Haltung daran gegangen. Mir war klar, ich will mal ins Ausland und dort arbeiten. Das kann man als Hebamme sehr gut. Auf jeden Fall wollte ich niemals Krankenschwester werden. An der Hebammenschule stellten wir uns am ersten Ausbildungstag in der Runde vor. Da war viel von Berufung und einem „von Gott aufgezeichneten Weg“ die Rede. So war es bei mir nicht. Ich bekam dann auch zu hören, dass ich wirklich berufenen Frauen den Ausbildungsplatz wegnehmen würde. Ich passte nicht in diese Hebammenschublade.
HF: Und dann ging es nach der Ausbildung gleich ins Ausland?
Anita Oehler: Ja, nach Chile. Zuvor hatte ich noch ein privates, vierwöchiges Externat als Hebammenschülerin in Brasilien absolviert. Ich arbeitete an der Dorfschule in Rodrigez, das in der Nähe von Formiga im Bundesstaat Minas Gerais liegt. Dort war ich Ansprechpartnerin für Erste Hilfe.
HF: Warum dann gerade Chile?
Anita Oehler: Ich wollte unbedingt nach Südamerika und in Chile lebt eine Tante von mir. So konnte ich erste Kontakte knüpfen und habe dabei vieles abgeklopft. Spanisch lernte ich schon während meiner Ausbildung zuhause und zusammen mit einer Kurskollegin begann ich schließlich mit meiner Arbeit in San José de la Mariquina an einem kleinen Kreiskrankenhaus mit etwa 750 Geburten im Süden Chiles, in der Nähe von Valdivia.
HF: Wie kann man sich die chilenische Hebammenausbildung vorstellen?
Anita Oehler: Die theoretische Ausbildung ist als vierjähriges Studium an der Universität angelegt, während die praktische Ausbildung an Krankenhäusern erfolgt. Die Ausbildung dort ist umfangreicher als die deutsche. So läuft auch die Krebsvorsorge, wie auch die gesamte Familienplanung dort über Hebammen.
HF: Wie konnten Sie dann mit einer dreijährigen Ausbildung an einer deutschen Berufsfachschule dort als Hebamme arbeiten?
Anita Oehler: Das chilenische Krankenhaus „Santa Elisa“ bürgte für uns. Angestellt waren wir aber als unentgeltliche Studentinnen bei freier Kost und Logis.
HF: Wie war die Kaiserschnittrate?
Anita Oehler: Ich weiß schon, auf was Sie hinaus wollen, denn die Wunschkaiserschnittrate in Südamerika ist wirklich exorbitant hoch, aber ich habe in einem staatlichen Haus auf dem Land gearbeitet. Die Klientel an Frauen bestand aus Eingeborenen, den Mapuche, die von Viehzucht und der Fischerei leben. Es gab dort keine Anästhesie, keine PDA. Die äußerst seltenen Notfälle verlegten wir nach Valdivia, das eine Stunde entfernt liegt. Wunschkaiserschnitte wurden vor allem in den großen Privatkliniken in Santiago und Temuco angeboten. Dort ist auch die PDA bei einer normalen Geburt obligat.
HF: Wie wurden die Geburten begleitet?
Anita Oehler: Wir hatten 24 Stunden Bereitschaftsdienste und immer eine Helferin zur Seite. Fast jede Erstgebärende, deren Durchschnittsalter bei etwa 18 Jahren lag, erhielt eine Episiotomie. Es gab keine Schmerzmittel und die Geburten erfolgten in Steinschnittlage. Die Frauen waren sehr unaufgeklärt, weshalb die Regierung auch auf Klinikgeburten bestand und beispielsweise über die kostenlose Ausgabe von Milch und Mehl die Schwangerenvorsorge attraktiv machte. Inzucht schien weit verbreitet, vor allem in den oft kleinen, abgelegenen Dörfern. Es gab öfter Fehlbildungen, wie einen sechsten Finger. Die durchschnittliche Kinderzahl lag bei 3-5. Insgesamt ist das staatliche Vorsorge- und Gesundheitssystemsystem sehr gut angelegt und besteht auf Integration und nicht auf Ausgrenzung gerade ärmerer Teile der Bevölkerung.
HF: Nach dem, bis auf den Küstenstreifen, bergigen Chile lag als nächste Station die Schweiz recht nahe?
Anita Oehler: Ja. Ansonsten war für mich die Schweiz nach der Zeit in Chile ein Kulturschock. Jeden Tag konnten die Frauen zwischen vier verschiedenen Menüs wählen. Selbst nach sechs Monaten war von mir noch als „die Gastarbeiterin“ die Rede. Die Geburtshilfe, ich arbeitete als angestellte Hebamme im Kanton Graubünden in Chur an einer Klinik mit 1200 Geburten, war dagegen sehr gut. Die Frauen hatten alle Freiheiten: Wassergeburten oder aufrechte Gebärhaltungen, da war im Grunde alles möglich. Auch die Vorsorge unterschied sich von Deutschland nur in der Anzahl der Ultraschalluntersuchungen, zwei statt drei. Die im Vergleich zu Deutschland höhere Bezahlung hob sich allerdings durch die höheren Lebenshaltungskosten wieder auf. Vielleicht war ich dort zur falschen Zeit, vielleicht wäre es auch einfacher gewesen, wenn es noch mehr „Gastarbeiterinnen“ dort gegeben hätte. So war ich die einzige und ging nach sechs Monaten zurück nach Deutschland, um dort ein Jahr als Beleghebamme in einer Würzburger Klinik zu arbeiten.
HF: Was blieb Ihnen davon eindrücklich in Erinnerung?
Anita Oehler: Dass ich mir so manchen Belegarzt nach dem Rufen etwas schneller im Kreißsaal gewünscht hätte.
HF: Aus der katholischen Domstadt ging es dann auf Bob Marleys Geburtsinsel in die Karibik.
Anita Oehler: Ja, ich wollte jetzt unbedingt Englisch lernen, traute mir aber ein rein Englisch sprechendes Land noch nicht so zu. Irgendwie wußte ich schon damals, dass diese Sprache für mich essentiell werden würde. Insofern war Jamaika toll, da ich dessen Zweitsprache Spanisch ja schon konnte.
HF: Und wie kam da der Kontakt zustande?
Anita Oehler: Über eine Assistenzärztin, die ich während meiner Ausbildungszeit an der Frauenklinik in Würzburg kennen gelernt hatte und die dort während ihres Medizinstudiums ein Praktikum gemacht hatte. Sie sagte mir: „Schreib niemals einen Brief, den lesen die eh nicht und beantworten ihn schon gar nicht. Fliege hin und stelle Dich vor“. Und so habe ich es gemacht. Ich hatte zur Sicherheit ein Rückflugticket für die nächsten zwei Wochen dabei. Ich mietete mir ein Zimmer und fuhr anschließend zur Klinik. Dort sagte mir die Pflegedienstleitung, dass es versicherungstechnisch für mich kein Problem sei, bei ihnen zu arbeiten. Sie könne mir allerdings nichts bezahlen. Das war für mich auch in Ordnung und so fing ich postwendend mit dem Arbeiten an und blieb dort sieben Monate.
HF: Um welche Klinik handelte es sich?
Anita Oehler: Um das General Hospital in St. Ann´s Bay mit 4200 Geburten pro Jahr. Die Hebammenausbildung orientiert sich sehr stark, als ehemalige Kolonie, an Großbritannien mit Bachelor- und Masterstudium. Ein Ausbildungskrankenhaus befindet sich in Kingston mit 12 000 Geburten im Jahr.
HF: Wie kann man sich die Geburtshilfe dort vorstellen?
Anita Oehler: Sehr selbständig. Ein Arzt wurde nur im Notfall gerufen. Zudem machte die hohe Geburtenzahl es notwendig, dass zwei Pritschen in einem Kreißsaal standen, so dass, es war nur eine Hebamme mit zwei Helferinnen im Dienst auch zwei Frauen gleichzeitig betreuen konnte. Es war auch selbstverständlich, wie in Chile, dass wir Hebammen die Geburtsverletzungen versorgten. Die Überwachung erfolgte über das Hörrohr, wir hatten weder CTG noch Ultraschall zur Verfügung.
HF: Welcher Notfall ist Ihnen noch sehr präsent?
Anita Oehler: Der Nabelschnurvorfall bei einer Fünftgebärenden bei einer Muttermundsweite von 4-5 cm. Ich leitete sie daraufhin forciert zum pressen an, während ich den Muttermund aufdehnte. Während der Wehenpause schob ich den Kopf wieder hoch, um die Nabelschnur zu entlasten. Natürlich gehörte auch Glück dazu, das Kind wurde zwar gestreßt geboren, erholte sich aber mittels kurzer Sauerstoffdusche gut. Interessant war für mich zu sehen, dass Frauen bei bekanntem Nabelschnurvorfall selbst in den OP im Nachbargebäude laufen mussten und viele Kinder dort durch Notsectio noch lebensfrisch geboren wurden. Im Notfall war diese Methode die Schnellste, da der Patiententransportdienst immer heillos überfordert war. Auch eine spontane, unkomplizierte Drillingsgeburt ist mir noch sehr präsent. Es wusste natürlich keiner, dass es Drillinge waren. Alle Mehrlingsgeburten und BEL wurden dort, sofern physiologisch, ausschließlich von Hebammen betreut.
Ja und dann noch die Inversio uteri bei einer Zehntgebärenden, die doch tatsächlich so – mit vorgestülptem Uterus und anhaftender Plazenta - mit dem Taxi vor der Klinik vorfuhr. Ihre Blutung war so stark, dass sie hysterektomiert werden musste.
HF: Wie sah es generell mit Atonien aus?
Anita Oehler: Da überraschte es mich, dass sie sehr selten auftraten, trotz dieser vielen Multiparae. Mein Eindruck war, sogar viel seltener als in Europa. Vielleicht weil die Geburten doch weniger invasiv begleitet wurden. Leider hat sich da inzwischen auch einiges verändert. Als ich Jahre später der Klinik nochmals einen Besuch abstattete, war gerade das ausgemusterte Inventar einer britischen Klinik komplett importiert worden und damit auch die Möglichkeit viel zu intervenieren. Das Flair, das, was die Klinik ausgemacht hatte, war verflogen.
HF: Dennoch scheint Ihr Herz noch an Jamaika zu hängen.
Anita Oehler: Jamaika war die bislang beste Zeit meines Lebens. Ich arbeitete meist im Frühdienst, lief morgens am Strand entlang zur Klinik. Die Kinder nannten mich „Shiny“ – wegen meiner, im Vergleich zu ihnen, leuchtend weißen Haut - und bereits nach zwei, drei Geburten war ich bekannt und akzeptiert. Der Reggae transportiert das dort herrschende Lebensgefühl, diese unbändige Lebensfreude, diese unglaublich freundlichen Menschen vielleicht am besten. Jamaika war eine Wohltat für meine Seele. Und das Ergebnis war eine Deutsche, die bald jamaikanisches Englisch sprach.
HF: Danach flogen Sie gleich in die USA weiter, um in Houston/Texas das Projekt eines hebammengeleiteten Kreißsaals mit zu verfolgen.
Anita Oehler: Ja und da gab es gleich, ich war ja wieder in einem industrialisierten Land, das Problem mit der Haftpflichtversicherung. Ich bekam keine Versicherungspolice, da ich keine amerikanische Krankenschwesternausbildung hatte. Die Hebammen waren aber interessiert an mir, die Frauenklientel bestand zu 60 Prozent aus Hispanics, so dass sie auf meine Spanischkenntnisse erfreut zurück greifen konnten. Die restlichen 40 Prozent waren Schwarze. Da die Schülerinnen haftpflichtversichert waren, lösten wir das Problem so, dass ich stets mit Schülerinnen arbeitete, sie zwar anleiten, aber nur hands-off arbeiten durfte.
Das Hebammenteam war schon älter, sie hatten alle eine Ausbildung als Nurse-midwife, so wie den Bachelor of Midwifery und waren unglaublich engagiert. Sie wollten einfach beweisen, dass Hebammen gute Geburtshilfe leisten können. Dadurch standen aber alle unter einem gewaltigen Druck. Nichts durfte schief gehen, dadurch entstand eine total verkrampfte Stimmung, die sich auf alle, auch die Gebärenden übertrug. Die Hebammen haben in den USA wenig Rückhalt. Obwohl das Projekt sehr erfolgreich war, wurde eine Weiterführung von höherer Stelle abgelehnt, ohne eine Begründung. Das war total frustrierend für alle Hebammen. Befremdlich waren für mich auch die riesigen Plakate, mit denen Kliniken für ihre Geburtsmedizin warben, ich hätte mir gerne andere Informationskampagnen gewünscht..
HF: Nach einem halbjährigen Zwischenstop in einer deutschen Belegklinik ging es dann für zwei Jahre nach Oxford ans John Redcliff Hospital.
Anita Oehler: Ja, die Zeit brauchte ich noch für meine Anerkennung am Nurcery midwifery Council. Großbritannien habe ich auch in sehr guter Erinnerung. Die Hebammenausbildung dort ist sehr gut, akademisch und der Beruf als solcher absolut anerkannt. Die Hebammen arbeiten meist angestellt an Kliniken, können aber auch unter der Bezeichnung Gemeindehebamme in ganz normalen 8-oder 12 Stunden-Schichten Hausgeburten begleiten. Die ganzen geburtshilflichen Abteilungen waren nur durch Hebammen besetzt. Jeder Vertrag war ein Rotationsvertrag, so konnte jeder für jeden schnell einspringen, was bei 7500 Geburten pro Jahr schon genial war.
HF: Wie erschienen Ihnen dann die nachfolgenden eineinhalb Jahre, in denen Sie die Leitung des Kreißsaals der Unifrauenklinik in Freiburg hatten?
Anita Oehler: Es wird wohl auch an der unterschiedlichen Ausbildung zwischen Großbritannien und Deutschland gelegen haben, aber das berufliche Selbstwertgefühl der britischen Hebammen scheint schon höher zu sein, als das der deutschen. Letztere brauchen oft die Absicherung durch den Arzt, Selbständigkeit, in Form von eigenständigem Denken oder auch das Nähen von Geburtsverletzungen ist nicht selten verpönt. Dabei vergessen die Hebammen, dass sie sich damit überflüssig machen, wenn sie selbst nur noch als Handlanger fungieren, denn das können auch andere Hilfsberufe für sie tun. Gerade in einem Ausbildungsbetrieb finde ich selbständige Hebammen als Vorbildfunktion sehr wichtig. Sind es doch wir, die die Grundlagen für ein zufriedenes Hebammendasein in der Zukunft schaffen.
HF: Nachdem Sie einen deutschen Gynäkologen geheiratet hatten, hieß es dann für Sie beide „Down Under“.
Anita Oehler: Ja, in Australien leben und arbeiten wir nun schon seit vier Jahren. Auch unsere beiden Kinder wurden hier geboren. In Sydney habe ich als Gemeinde- und Lehrhebamme gearbeitet. Danach ging es für zwei Jahre nach Melbourne und eben sind wir in Adelaide angekommen. Australien bietet Hebammen sehr viele Arbeitsmöglichkeiten und auswanderungswillige Hebammen haben gute Chancen. Wer hier arbeiten möchte sollte aber viel Vorlaufzeit für die Anerkennung des Berufes mit ein planen. Bei mir hat es über ein Jahr gedauert, bis ich endlich loslegen konnte. Mein Mann hatte allerdings von Anfang an eine Stelle, so dass das kein Problem war.
Man kann hier selbständig oder angestellt arbeiten. Es ist jedoch schwierig in Kürze alle Möglichkeiten offen zu legen, da die Gesetzgebung in allen Bundesstaaten variiert. Ich stehe aber allen Interessentinnen gerne mit Auskünften zur Verfügung. Wir fühlen uns auf jeden Fall hier sehr aufgehoben und können uns sehr gut vorstellen, für immer in Australien zu bleiben.
HF: Was blieb in Ihnen als Essenz nach dieser eindrücklichen Hebammen-Weltreise haften?
Anita Oehler: Dass es sich immer lohnt, ins Ausland zu gehen. Nichts ist interessanter, als von Hebammen aus anderen Kulturkreisen zu lernen. Geburtshilflich war es für mich eindrücklich zu sehen, was diese ganzen juristischen Repressalien in den industrialisierten Ländern mit uns machen. Es wird zu oft vergessen, dass es zu einer normalen, Geburt – und das sind nun mal fast alle – nur eine gute Hebamme braucht. Deshalb sollte eine normale Geburt nicht von Medikamenten, Maschinen und Ärzten abhängig sein. Wirkliche Notfälle – das erlaube ich mir nach diesen ganzen Erfahrungen zu sagen – sind bei nicht invasiver Begleitung sehr selten. Ebenso sollte es das Wort Wunschsectio nicht in unserem Hebammenwortschatz geben. Wir sind verantwortlich für die Hebammenarbeit der Zukunft und Deutschland hat das beste Hebammengesetz, das ich kenne. Wir sollten das Beste daraus machen und es voll ausschöpfen.>>>>>