Hebammen und Sexualität - ein Tabu?

Bei einem meiner letzten Hausgeburtsseminare für Hebammenschülerinnen fragte ich, ob das Fach Sexualität in der Schwangerschaft und bei jungen Eltern inzwischen Einzug in den Lehrplan gefunden habe und erntete Kopfschütteln. Eine Kollegin rief mich vor ein paar Jahren an und stellte mir Fragen. Eine davon war: Zu welchem Zeitpunkt empfiehlst Du eigentlich wieder Sex nach der Geburt?

Bei einem meiner letzten Hausgeburtsseminare für Hebammenschülerinnen fragte ich, ob das Fach Sexualität in der Schwangerschaft und bei jungen Eltern inzwischen Einzug in den Lehrplan gefunden habe und erntete Kopfschütteln. Eine Kollegin rief mich vor ein paar Jahren an und stellte mir Fragen. Eine davon war: „Zu welchem Zeitpunkt empfiehlst Du eigentlich wieder Sex nach der Geburt“? Die Kollegin hatte zu diesem Zeitpunkt selbst schon mehrere Kinder geboren, die meines Wissens alle spontan empfangen und alle spontan geboren worden waren. Bei einem Symposium erfreute sich die Arbeitsgruppe Sexualität in der Schwangerschaft bei den Hebammen allergrößter Beliebtheit. Ist demzufolge das Thema Sexualität während und nach der Schwangerschaft für uns Hebammen ein Tabu?

Bei einem amerikanischen Workshop stellte mir die Leiterin der Gruppe ganz unvermittelt die Frage: „Will you tell us something about your sexlife“. Ich musste erst einmal herzlich lachen über diesen mir ungewohnt offenen Umgang, zumal ich mir diese Frage zu diesem Zeitpunkt niemals bei einem Workshop auf einem großen deutschen Hebammenkongreß vorstellen konnte und teilte dies auch der Gruppe mit. „Are“, konterte daraufhin die Fragestellerin „german midwives suspicious aliens because they have no sexlife? And: Where are Germans made - in plastic tubes“?

Nun liegt es sicher an der eigenen sexuellen Erfahrung, auch am Lebensalter und ebenso daran, wie nahe uns die begleitete Schwangere oder das Paar stehen, ob wir das Thema Sexualität sehr offen, beherzt oder mit mehr oder weniger großem Unbehagen ansprechen. Fakt ist, dass es sehr viel mit uns und unserer Sozialisation zu tun hat. Wo verorte ich mich sexuell? Fühle ich mich erfüllt und zufrieden? Lebe ich meine sexuelle Bestimmung, in der ich mich aufgehoben fühle oder wahre ich die heterosexuelle Norm aus Angst beispielsweise auf dem Land als lesbische Hebamme aufzufallen? Habe ich (noch) Altlasten in Form einer vergangenen Vergewaltigung oder eines Mißbrauchs zu tragen? Warum reagiere ich bei der gleichen Frage bei dem einen werdenden Vater zögerlich und schamhaft und beim anderen selbstbewusst und bestimmt? Was liegt an ihm und was an mir? Berate ich die Paare normativ, so wie es mir gefällt oder es eine Studie besagt oder begleite ich die Paare in ihrem Sinne? Lasse ich ihnen den sexuellen Raum, den sie brauchen oder meide ich das Thema gefliessentlich?

Fallbeispiel:

Marika und Reiner erwarten das erste Kind. Das Kind ist lange geplant, beide kennen ihre Körper sehr genau und Reiner fragt bereits beim Erstgespräch, ab wann sich die Dammmassage empfehle und ob er sie auch als Mann bei seiner Frau ausführen dürfe, da er ganz begierig darauf sei, seine Frau noch besser kennen zu lernen. Marika fühlt sich wohl neben ihrem Mann. Freimütig erzählt sie, dass ihr Mann kein Lippenbekenner sei, sondern sich die Kindererziehung fair mit ihr aufteile und dafür schon beruflich die Weichen gestellt habe. Das mache ihr noch mehr Lust auf ihren Mann, da sie beide als Paar ein ausgewogenes Verhältnis lebten. Marika: „Ich darf auch mal meine starke Frauenschulter zeigen, während Reiner weint. Dann hänge ich mal wieder Tage durch und mein Mann stützt oder motiviert mich in dieser Zeit, je nachdem, was ich gerade brauche. Wir reden einfach ganz viel miteinander und haben auch schon diverse Babysitter organisiert, damit uns das als Paar auf keinen Fall verloren geht“. Ein Paar wie aus dem Bilderbuch. Reiner und Marika beginnen ab der 34. SSW mit der Dammmassage und beide teilen mir mit, wie interessant dies für sie beide sei. Reiner sucht und findet den G-Punkt bei seiner Frau, ein neues Highlight in der Paarbeziehung, das mir offen mitgeteilt wird, ebenso die bei Marika auftretenden ambivalenten Gefühle, die unangenehme Kindheitserlebnisse mit ihrer „verklemmten, bigotten“ Mutter zutage brachten, erörterten wir ausführlich. Mein Hinweis, dass es Wissenschaftler gibt, die die Existenz des G-Punktes nach wie vor ins Reich der Mythen abschieben, kommentierte Reiner nonchalant: „Solchen Leuten wünsche ich einfach nur den richtigen Partner beziehungsweise die richtige Partnerin“. Da Marika weder unter Schwangerschaftsübelkeit noch unter anderen Schwangerschaftsbeschwerden litt, übten beide ihre Sexualität uneingeschränkt während der Schwangerschaft aus. Ich sprach – wie bei vielen Paaren - kurz an, dass es während der Stillzeit bei manchen Frauen aufgrund der veränderten Hormonkonstellation (geringere Werte an Östrogen und Progesteron, höherer Wert an Prolaktin) zu einem vorübergehenden geringeren Interesse an Sex kommen kann oder die Scheide beispielsweise trockener sein könne, was aber beispielsweise mit einem Gleitgel gut behoben werden könne. Die Wassergeburt ihres Sohnes verursachte nur einen kleinen Dammriss, der nicht genäht werden musste, da keine Muskulatur betroffen war und rasch heilte. Gut drei Wochen nach der Geburt zwinkerte mir Marika beim Abschlußbesuch zu und erzählte, „dass alles o.k. sei“. Ich wollte es gestern unbedingt wissen, weil Du heute ja das letzte Mal offiziell kommst und ob ich da noch was mit Dir besprechen muss, aber bis auf die Tatsache, dass sich die Scheide etwas anders anfühlt, habe ich nichts bemerkt, es war so schön wie vorher, aber da mache ich ja jetzt Beckenbodentraining“.

 

Nicht immer machen es uns Hebammen Paare so einfach, manchmal gibt es auch Umwege, um an des Pudels Kern zu gelangen. So erging es mir bei Sonja und Bernd. Sonja erwartete das erste Kind, während es für Bernd das zweite Kind war. Die Scheidung mit seiner Ex-Frau war gerade noch über die Bühne gegangen, bevor ihr zweites Kind geboren wurde. Sie wurde nur zwei Jahre nach der Geburt des Kindes geschieden. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die meisten Ehen binnen drei Jahren pp geschieden werden, was uns Hebammen sehr aufmerksam machen sollte, zumal mehr als jede vierte Hilfe suchende Frau eine Beratung zum Thema Sexualität nicht aktiv sucht, sondern eher angesprochen werden möchte (1). Mit Sonja besprach ich immer wieder einige Aspekte, die Sexualität betreffend, während ich Bernd, der beruflich sehr eingespannt war, selten zu Gesicht bekam. Insgesamt war Sonja mit ihrer sexuellen Aktivität zufrieden, obwohl sie im dritten Trimenon deutlich nachgelassen habe, aber sie glaube, dass sich Bernd deshalb häufiger selbst befriedige. Ob sie ihn nicht einmal darauf ansprechen wolle, wollte ich wissen, doch sie verneinte und meinte, dass „er sich schon melden würde, wenn er sich zurück gesetzt fühle“. Ich beließ es dabei. Sonjas Geburt verlief unspektakulär. Der Damm blieb intakt, der Labienriß auf der einen Seite verheilte ohne Naht reizlos. Auffällig war, dass Bernd keinen großen Wert auf das Stillen seines Sohnes legte und er mehrfach den Satz: „Kinder werden auch mit Flasche groß, das Stillen sollte nicht überbewertet werden“, von sich gab. Als ich nachfragte, hielt er sich stets vage, dies sei seine Meinung und ich solle das einfach so stehen lassen. Er boykottierte jedoch nicht Sonjas unkompliziertes Stillen, sondern signalisierte, dass es seine Frau nicht unbedingt tun müsste, er es aber „stehen lassen“ konnte.

Neun Wochen nach der Geburt rief mich Sonja an und berichtete über mehrere vergebliche Versuche ihres Mannes „erstmals seit der Geburt in mich einzudringen“. Ich war erschrocken über die Wortwahl und fragte nach, ob sie denn überhaupt Lust auf Sex habe oder nur ihrem Mann einen Gefallen tun wollte. Sie weinte am Telefon und wir vereinbarten einen Termin zusammen mit ihrem Mann in der Praxis. Bernd war dieser Termin sehr unangenehm. Da er wissenschaftlich arbeitete, hatte ich zuvor Studien ausgedruckt, die sich mit dem Thema Sexualität nach der Geburt befassten (1) (2). Während mir Sonja zwar stockend aber dennoch offen von ihrem Problem berichtete, suchte ich im Text nach den sie betreffenden Stellen Dyparneurie und Nachlassen des sexuellen Interesses und markierte sie mit meinem Kugelschreiber. Dabei wiederholte ich das von Sonja Gesagte und las die Studienkommentare dazu vor. Bernd entspannte sich dabei zusehends. Er war die ganze Zeit über als aktiver Zuhörer tätig, ohne einen Kommentar abzugeben. Als ich vorlas, dass die Abnahme des sexuellen Verlangens bei den meisten Frauen während des gesamten ersten Jahres nach der Geburt andauern könne, dann aber in der Regel wieder auf die Werte vor der Geburt anstieg, wurde er sehr nachdenklich und sagte: „Vielleicht habe ich da meiner Ex-Frau zu wenig Zeit gelassen“. Sonja und ich verstanden nicht und er erzählte, dass der Hauptgrund für die Scheidung die brachliegende Sexualität der Beziehung seit der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter gewesen sei und er es jetzt sehr bedauere, dass er diese Informationen damals nicht erhalten habe“. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich sah Sonja gespannt an, die jedoch über den Dingen zu stehen schien, denn sie antwortete: „Ja, dann können wir beide es ja jetzt nur besser machen, mit diesen Informationen. Wir wissen jetzt, dass es vielen Frauen so geht und was“, sie sah mich dabei herausfordernd an, „raten die Wissenschaftler dagegen zu tun“? Doch Bernd fühlte sich angesprochen und meinte: „Auf jeden Fall bin ich jetzt dafür nicht abzustillen, weil ich dachte, die Hormone spitzen alles noch zu, aber ganz so einfach ist es nicht, das verstehe ich jetzt. Ich war die ganze Zeit über total eifersüchtig auf die Kinder, weil ich dachte die Frauen holen sich den Sex über das Stillen und Schmusen mit den Kindern und mir wird er deshalb vorenthalten, aber wie gesagt, so einfach ist das nicht. Ich merke, dass es wichtig ist, jetzt was Anderes auszuprobieren“. Sonja kam plötzlich vom Thema ab und ich spürte, dass Sexualität zumindest gerade für dieses Paar kein Thema mehr war. Wie es beide letztendlich gelöst haben, haben sie mir nicht verraten. Eine Postkarte wenige Monate später von einer kanarischen Insel abgeschickt klang so fröhlich, dass ich mir keine Gedanken mehr darüber machte.

 

Sehr sensibel gehe ich mit Studienergebnissen um. Zwar mag es für so manches Paar hilfreich sein, dass die durchschnittliche Koitusfrequenz im zweiten Trimenon etwa bei fünf pro Monat liegen soll, einem anderen Paar kann dieser Hinweis jedoch vielleicht in einen Leistungsdruck hinein steigern. Ich frage deshalb vorsichtig und nicht direktiv – eher im Sinne von unbedarft – nach, wo es gerade Unstimmigkeiten gibt oder geben könnte. Großen Wert lege ich darauf möglichst unbefangen dabei aufzutreten, ohne meine Authentizität zu verlieren. Als mir beispielsweise ein Paar einmal über ihre sadomasochistischen Fantasien berichtete, die mir sehr pervers erschienen, teilte ich ihnen unumwunden mit, dass mich ihre Offenheit sehr ehre und dies auch zeige, dass zwischen uns ein absolutes Vertrauensverhältnis bestehe, ich mich jedoch als ihre Hebamme und nicht als Stimulans oder Sexualtherapeutin sehe. Unser Verhältnis hat dies in keinster Weise getrübt.

 

Aufgefallen ist mir während der ganzen Gespräche über Sexualität, dass Paaren eine lebenserfahrene Hebamme sehr wichtig ist, die ihre eigenen Gefühle die Sexualität der Schwangerschaft, Geburt und der Zeit danach betreffend, gut reflektiert und damit verortet hat. Als berufsjunge Hebamme sah ich mich manchmal Paaren gegenüber, die teilweise Jahrzehnte älter als ich waren und das Thema aus diesem Grund schon keines war. Vielleicht wäre es damals manchmal professioneller gewesen, wenn ich eine ältere Hebamme hinzugezogen oder dies zumindest den Eltern angeboten hätte.

Ein großes Thema bei den Paaren ist die mangelnde Kommunikation, die dann häufig auch in sexuellen Problemen endet. So fragte mich ein Mann einmal, nachdem er mir angeboten hatte, meine Tasche zum Auto zu tragen – ein untrügliches Zeichen, dass er etwas loswerden wollte – ob sich hierzulande Frauen heute auch im Genitalbereich rasieren oder das eher türkisches Kulturgut sei. Er tat dies neutral und überhaupt nicht schlüpfrig. Ich antwortete, dass dies von deutschen Frauen sehr individuell gehandhabt werde und er ließ erleichtert durchscheinen, dass er dieses Thema gerne mit seiner Frau besprechen würde, sich aber nicht traue, weil er Angst habe, dass sie ihn für verrückt erkläre. Ich sagte ihm, dass ich das Thema unverfänglich beim nächsten Besuch ansprechen würde, was ich dann auch folgendermaßen tat: Ich sprach an, dass die Intimrasur heute in den Kliniken kein Thema mehr sei, es aber Frauen gebe, die eine rasierte Scham schöner und auch hygienischer fänden, aber ich als Hebamme keinerlei Vorteile, die Hygiene betreffend feststellen könne, das sei einfach Geschmackssache. Die Frau sah daraufhin ihren Mann an und sagte: „Das habe ich mich auch schon lange gefragt, ob ich das mal machen soll, aber ich glaube, dass mein Mann mich rasiert nicht ansprechend finden könnte“. Der Mann war verblüfft und ich antwortete: „Ja, genau, das ist ein Thema, das ihr heute Abend noch ausführlich unter vier Augen besprechen könnt, das geht mich ja nichts an“.

Insgesamt liegt die Schamgrenze bei nicht wenigen Paaren ziemlich hoch. Deshalb finde ich die Idee des Projekts Theratalk des Instituts für Psychologie der Universität Göttingen für solche Paar ausprobierenswert. Theratalk funktioniert wie ein Partnerschaftstest, der im Internet ausgefüllt wird. Bei dem Modul „Sexuelle Wünsche“ werden beide Partner getrennt nach ihren sexuellen Wünschen befragt. Die Angaben werden dann zu einer Rückmeldung zusammengeführt, die für jeden Partner jedoch nur diejenigen sexuellen Wünsche erfasst, die er selbst gerne erfüllen würde. So braucht keiner der Partner Angst zu haben, sexuelle Wünsche preiszugeben, die vom anderen möglicherweise abgelehnt werden könnten. Das Angebot ist kostenlos und anonym. Die Wirksamkeit des Verfahrens ist wissenschaftlich belegt – sowohl zur Steigerung der sexuellen Zufriedenheit als auch zur Anregung von Gesprächen über die eigenen sexuellen Wünsche.

www.theratalk.de

Theratalk wäre demzufolge für uns Hebammen eine Möglichkeit Paaren, deren sexuelle Probleme unseren Wirkungskreis übersteigen, die jedoch noch keine therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchten, eine Möglichkeit zu bieten, als anonymer Türöffner für eine offene Kommunikation zu dienen.

 

Und nicht zuletzt dürfen wir Hebammen uns immer wieder daran erinnern, dass unsere Geburtsbegleitung ebenfalls Sexualitätsbegleitung bedeutet. Oder wie es eine Erstgebärende einmal ausdrückte: „ Ich habe meinen Kinderwunsch auch deshalb vor mich hergeschoben, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, in einem Krankenhaus und bei mir ziemlich unbekannten Menschen mein Kind zu bekommen. Das wäre für mich so gewesen, als ob ich Sex zur Mittagszeit auf dem Marktplatz hätte praktizieren sollen. Nach unserem ersten Gespräch wusste ich aber, dass ich Dich auch im Zimmer beim Sex akzeptieren könnte und da wusste ich, diese Geburtsbegleitung und dazu noch in meinen eigenen vier Wänden, die passt“.

Wir Hebammen müssen uns zuvor nur gewahr sein, dass wir selbst auch sexuelle Wesen sind, egal wie, wann und ob wir sie praktizieren. Wenn wir hier Ausgewogenheit und Stimmigkeit in unser Leben gebracht haben, gibt es auch kein Tabu mehr. Und das Fallen dieser Schranke wird unseren Berufsalltag noch weiter – lustvoller machen.

 

Quellen:

1 Byrd JE, Hyde JS, DeLamater JD, Plant E.A. Sexuality during pregnancy and the year postpartum. The Journal of Family Practice 1998; 47: 305-8.

2 Glazener CMA. Sexual function after childbirth: women´s experiences, persistent morbidity and lack of professional recognation. British Journal of Obstetrics and Gynaecology 1997; 104: 330-5.