Hebammen-Schülerin Marie Luise

Ich bin Hebammenschülerin im dritten Ausbildungsjahr und lerne in einem der größten Perinatalzentren Deutschlands. Hier erblicken jährlich über 2700 Kinder das Licht der Welt, begleitet durch höchsten, medizinischen Standard, der von maximaler Schmerztherapie bis hin zu Wunschkaiserschnitt, über Geburtseinleitung und dauerhafter CTG-Überwachung unter der Geburt reicht. Während meiner Arbeit frage ich mich oft, ob hier wirklich das Wohl von Mutter und Kind an erster Stelle stehen oder viel mehr zeitlich strukturierter Ablauf und finanzieller Ertrag den Alltag bestimmen…

 

Nun habe ich DIE Gelegenheit aus diesem großen Klinikkomplex auszubrechen, der mein Leben zurzeit bestimmt – ich stehe kurz vor dem Examen!

 

Ich fahre voller Vorfreude nach Hohenlohe, um mein Praktikum bei Hausgeburtshebamme Martina Eirich zu beginnen und werde sogleich mit offenen Armen empfangen. Es tut gut, willkommen zu sein und nicht bloß als „die Schülerin“ toleriert zu werden, sind wir doch im Kliniktumult oft nur eine unter vielen.

 

Und schon geht es los. Wir starten sofort in die hausgeburtliche Hebammenarbeit, rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Ich lerne eine völlig neue Arbeitsweise kennen und habe das Gefühl, hier wirklich ganzheitlicher Betreuung zu begegnen. Wir besuchen die Frauen und Familien zu Hause, in deren gewohnter Umgebung und erhalten so einen intimen Einblick in die jeweilige Lebenssituation der werdenden Eltern. Fragen, Wünsche und Hoffnungen können hier ausgesprochen werden, Raum und Zeit sind hier vorhanden. Ich lehne mich zurück und bin glücklich, diese Facette der Geburtshilfe kennen lernen zu dürfen, wo Kinderkriegen als große Aufgabe und Geschenk verstanden wird, auf das sich liebevoll vorbereitet und sich vor allem in Sachen Geburtserlebnis besonders auseinander gesetzt wird. Oft gehen wir durch die Wohnungen und malen uns aus, wo wohl der beste Platz für die Begrüßung des neuen Erdenbürgers sein könnte. Ich erlebe Frauen, die sich voll und ganz auf das Mutterwerden einlassen und viel weniger versuchen, möglichst viel Verantwortung in fachkundige, fremde Hände abzugeben- sich stets auf andere verlassen wollen.

Martina lehrt mich, dass frau für eine Hausgeburt „ihre Mitte“ finden muss und führt ihre Hand unterstreichend zum Herzen hin. Ich beginne zu verstehen.

„In-seiner-Mitte-sein“ heißt, sich und das Ungeborene zu fühlen, zu spüren, Ängste wahrzunehmen und ihnen zu begegnen, sich ganz bewusst mit der Zeit des Umbruchs auseinander zu setzen, sich auf Neues einzulassen.

 

Zwischen den Hausbesuchen verbringen wir viel Zeit im Auto und unterhalten uns und noch viel mehr. Wir tauschen Erfahrungen aus und ich lerne viel über all die Dinge, die in der Hausgeburtshilfe so wichtig sind, im Klinikalltag jedoch kaum zählen. Raum und Zeit vor allem. Raum und Zeit, um auf all die unterschiedlichen Frauen einzugehen, wo jede einzelne ihre Geschichte mitbringt. Ich denke oft an meine gewohnte Arbeit und werde nachdenklich. Leider ist es in der Klinik oft nicht möglich, auf all die verschienen Geschichten einzugehen, schließlich sind die so vielfältig wie die Gesellschaft an sich. Aber wie wäre das auch möglich, schließlich sehe ich die Paare in dem Moment das erste Mal, wenn sie an der Kreißsaaltüre klingeln und zur Geburt kommen. Ein Kennenlernen ist hier auf das Minimalste beschränkt.

Hier lerne ich viele Frauen in ihrem Alltag kennen, ohne sie in der Ausnahmesituation „gebärend“ zu erleben und lausche gespannt deren Erzählungen, wie es ihnen momentan geht und was sie derzeit beschäftigt. Martina geht auf alle ganz individuell ein und gewinnt so unglaubliches Vertrauen.

 

Ich erlebe Schwangerenvorsorge ohne Ultraschallgerät und endlose Parameter, sondern vielmehr ganzheitliche Fürsorge mit stärkenden Gesprächen und Fußreflexzonentherapie. Natürlich mit der notwendigen medizinischen Betreuung, welche hier jedoch nicht den primären Part einnimmt, sondern vielmehr Teil eines großen Mosaiks darstellt.

 

Immer öfter darf nun auch ich Hand anlegen und bin hin und weg, als ich spüren kann wie groß das Baby einer Frau in der 16. Schwangerschaftswoche bereits ist und dass es sich im Moment in Querlage befindet. Unglaublich! Die Schwangere liegt entspannt auf ihrem Sofa im Wohnzimmer, auf der Sofalehne turnen die drei großen Geschwister herum und verharren gespannt, als sie den Herzschlag ihres ungeborenen Geschwisterchens hören.

 

Ein anderes Mal sitzen Martina und ich im Wohnzimmer eines Paares, welches vor vier Wochen Eltern der kleinen Johanna geworden sind - natürlich Zuhause, ganz privat, mit

Eins-zu-Eins-Betreuung durch Hebamme Martina. Ich unterhalte mich lange mit dem frisch gebackenen Vater und kann kaum glauben, welch unglaubliches Erlebnis die Geburt seiner ersten Tochter für ihn war. Statt „Risikoschwangerschaft“ laut Mutterschaftsrichtlinien (denn seine Partnerin hat bereits das 35. Lebensjahr vollendet!), Schwangerenbetreuung mit Herz und Hand in den eigenen vier Wänden und dann der krönende Beginn einer Vernetzung auf Lebenszeit - die Geburt von Johanna im eigenen Badezimmer. Immer wieder steigen Tränen in die Augen des Vaters, der übrigens die schlafende Johanna nahe am Herzen im Tragetuch trägt. Außergewöhnliches Paar, ja auf alle Fälle, vielleicht sogar ungewöhnlich, allemal einzigartig! Ich versuche mir vorzustellen, wie die Geburt der Kleinen in meinem großen Klinikkomplex hätte ablaufen können. Ich frage mich, ob hier Platz für so viel Einmaligkeit gewesen wäre…

Jedenfalls sind beide glücklich über ihre Entscheidung, entgegen vieler „gut gemeinter“ Ratschläge, ihr Kind in Würde und Ruhe Zuhause zu empfangen.

 

Mehrmals in meiner Praktikumszeit besuchen wir eine Schwangere kurz vor dem errechneten Entbindungstermin, die nun gespannt auf das Einsetzen der Wehen wartet. Sie erzählt von ihren Vorbereitungen und Gedanken, die sie so kurz vor dem Ankommen des ersten Kindes beschäftigen. Die Hühnersuppe fürs Wochenbett ist gekocht und eingefroren, der Stubenwagen steht bereit. Täglich übt die sportliche junge Frau die tiefe Hocke und hat auch schon alle Utensilien von Martinas must-have-Liste für die Geburt bereitgestellt. Sie erzählt von Vorfreude und Neugier, von Entspannungsbad und Kreuzbeinmassage- nicht von PDA-Wunsch.

 

Bei den Babymassage-Abenden lerne ich eine Martina kennen, die sich nun auf sechs verschiedene Mutter-Kind-Paare konzentrieren muss und dies mit dem gleichen Prinzip tut: Raum und Zeit für alle, individuelles Eingehen auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Es wird gefragt, wie es allen seit dem letzten Abend ergangen ist, ob neue Fragen aufgetaucht sind und wie sich die Kinder entwickelt haben. Es herrscht eine entspannte und lockere Atmosphäre, in der gestillt, erzählt und ja, massiert wird. Jede in ihrem Tempo, jede so, wie es das Baby mag.

Wahnsinn, wie unterschiedlich die Frauen und ihre Kinder sind und doch haben sie hier alle etwas gemeinsam: Sie bekamen ihre Kinder im Schoße ihre Familien zu Hause mit Hausgeburtshebamme Martina.

 

 

Danke Martina für die Chance, einen Einblick in die Hausgeburtswelt und Deine Arbeit zu erhalten. Die Zeit bei Dir hat mich sehr geprägt und mir so einige Male die Augen geöffnet.

                                                                   

                                                                            

                                                                                                  Von Marie Luise, Frühjahr 2011